Die Bedeutung der Kindheit
Was ist Kindheit? Sie ist ein Raum, in dem das Kind aus sich selbst schöpfend spielen und sich dabei gemäß seines individuell angelegten Bauplans entwickeln kann. Die Kindheit wird dem Kind von einer und später bis zu drei zuverlässigen immer gleichen erwachsenen Bezugspersonen geschenkt. Die Bindungspersonen begleiten das Kind durch Wahrnehmen (so wird das Kind wahr), Auserwählen (so spürt das Kind seine Bedeutung), bedingungsloses Annehmen (so kann es sich selbst entsprechen), Schutz vor Störungen im Spiel (so kann es seine Entwicklung selber steuern). Sie helfen dem Kind, seine Affekte zu regulieren und bieten ihm jederzeit eine Schulter zum Weinen. Das ist besonders dann nötig, wenn das Kind einmal mehr mit einer der vielen Vergeblichkeiten und Frustrationen des Lebens konfrontiert wird und sich mit ihnen arrangieren muss.
Kinder mit Kindheit erkenne ich sehr gut. Die ohne auch.
Das Kind ohne Kindheit hat einen angestrengten Gesichtsausdruck, es ist wachsam, ja zuweilen überpräsent. Gleichaltrigen gegenüber ist es entweder auffallend dominant oder auffallend unterwürfig. Immer ist es in komplizierte und unerfreuliche Dynamiken mit Gleichaltrigen verwickelt. Oft trägt es seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Schau und hat zumeist einen relativ großen Wortschatz. Fremden Erwachsenen gegenüber verhält es distanzlos, unbescheiden und mitunter zudringlich. Es ist zudem immerzu bemüht sich anzubiedern, manchmal kommt einem sogar der Gedanke an Prostitution. Kinder ohne Kindheit weinen und lachen selten. Es fühlt sich an, als können sie sich einen unverblümten Kontakt zu ihren Gefühlen nicht leisten. Und das ist das Wichtigste: Sie können nicht oder zumindest nicht ohne ganz viel bindungsmäßige Angebote meinerseits - ins freie Kinderspiel kommen. Sie sind im Diesseits gefangen, weil sie die gesamte Verantwortung für ihre Versorgung selber tragen müssen. So gesehen leisten sie Kinderarbeit.
Kinder mit Kindheit findet man hin und wieder auch unter den Halbtagskrippenkindern. Kinder ohne Kindheit manchmal auch unter den Familienkindern. Die meisten Kinder mit Kindheit aber wachsen zunächst einmal in der Privatsphäre ihres eignen Zuhauses bei ihren Eltern auf. Sie gehen dann mit drei oder vier Jahren halbtags in den Kindergarten – oder auch nicht. Das spielt für sie gar keine große Rolle, denn sie genügen sich selbst. Diese Kinder erkenne ich an ihrem gar nicht angestrengten Auftreten und der Aura, die noch von ihrem Vorleben zu stammen scheint; an dem Leuchten in ihren Augen auch. Erwachsene, die nicht zur Gruppe ihrer Bindungspersonen gehören, beachten sie nur, wenn ihr Dienst für ihr Spiel nötig ist. Überhaupt, alles dreht sich im Leben des Kinds mit Kindheit um das Spiel. Im Kindergarten sind sie sehr beliebt, weil sie so gut spielen können. Bewegt wird das Kind mit Kindheit durch seine Emotionen, denen es sich unverblümt stellt. Wird es traurig, so ist ja immer eine Schulter zum Weinen da. Aus diesem Weinen geht es gestärkt hervor, denn es erlebt nach jedem Trösten von Neuem, die Frustration überlebt zu haben. Frisch gestärkt kann es sich dann der nächsten stellen. Es weint und lacht und kämpft nach Herzenslust. Die Befürworter der frühkindlichen Bildung würden vor Neid erblassen, wüssten sie, wie viel die Kinder mit Kindheit lernen.
veröffentlicht am