Massenhaft kaputte Schränke

Das Leben im Ausnahmezustand lässt uns mehr und mehr erkennen, ...

dass wir bisher nur vermeintlich vereinbart haben. Die tatsächliche Vereinbarung von Familienleben und Berufstätigkeit findet erst jetzt statt. Üblicherweise hatten die meisten Familien ihren Alltag in „Schubläden“ gepackt. Es gab Fächer, genannt „Kita“ und „Schule“ für die Kinder - „Büro“, „Werkstatt“ etc. für die Eltern. Tagsüber gab es kaum gemeinsame Berührungspunkte, weil wir uns voneinander wegorganisiert hatten und jeder einigermaßen ungestört in seiner „Kommode“ hantierte- das war vergleichsweise einfach. Doch nun sind alle Regalböden gezogen worden, sodass all unsere Aufgaben, Interessen und Verpflichtungen wild durcheinanderpurzeln und neu sortiert werden wollen. Willkommen im tatsächlichen Vereinbarungsmodus.

Chancen und Herausforderungen

Am Verhalten und der Kooperationsbereitschaft unserer Kinder merke ich, dass wir uns momentan im scheinbar ganz natürlichen Familienleben befinden. Sie haben kein Problem damit, dass wir den ganzen Tag zusammen sind und parallel jeder seinen Verpflichtungen wie Homeschooling und Homeoffice nachgeht. Und genau darüber erschrecke ich: was haben wir in den letzten Jahrzehnten bloß mit unseren Familien gemacht? Welche künstlichen Lebensräume haben wir geschaffen, um voreinander Ruhe zu haben? Welchen Strukturen haben wir uns untergeordnet und zu welchem Preis? Wie viele Kinder mussten den größten Teil eines Tages auf ihr eigentliches Zuhause verzichten, weil die Eltern ebenfalls nicht daheim, sondern unterwegs auf der Arbeit waren? Wir haben es als „normal“ erachtet, die meiste Zeit getrennt voneinander zu verbringen, bis wir nun die Chance bekamen, das tatsächlich Normale an Familie wiederzuentdecken (mit allem, was dazu gehört...)

Ich stelle selbst fest, dass es mir an Übung fehlt, meine eigene Arbeit in Anwesenheit der Kinder zu organisieren und durchzuziehen. Auch ich kann mich nach wie vor besser konzentrieren, wenn ich eine Tür hinter mir schließen kann und absolute Ruhe herrscht. Ich genieße Tapetenwechsel und mag es Freunde und Kollegen außerhalb der eigenen vier Wänden zu treffen - genau dafür habe ich meine Kinder bisher hin und wieder Betreuungseinrichtungen überlassen - obwohl wir eigentlich ein gemütliches Zuhause haben...

Die aktuelle Situation zwingt mich, umzudenken und dazuzulernen, vor allem mich liebevoll abzugrenzen, Bedürfnisse und Wünsche klar zu kommunizieren und uns allen abzuverlangen, viel bewusster aufeinander Rücksicht zu nehmen. Ich entdecke, dass das in getrennt voneinander lebenden Schubfächern nicht in dem Maße erforderlich ist (oder war) Doch ich möchte meine Kinder auch jetzt nicht als Störfaktoren betrachten, sondern ein wertschätzendes, respektvolles Miteinander mit ihnen einüben, in dem jedes Bedürfnis zu seiner Zeit wahrgenommen, berücksichtigt und gestillt wird (ein langer Weg...)  Es muss beim Versuch gerecht zu vereinbaren, also möglich sein, meine Bedürfnisse mit denen der Kinder möglichst parallel in Einklang zu bringen oder zumindest zu akzeptieren, dass wir uns als Familie manches schuldig bleiben, verzichten und abwarten müssen. Dass eben nicht immer alles sofort geht.

Ich schätze, dass wir den meisten Kindern Unrecht tun, wenn wir sie von uns wegschicken, um zu entspannen, Spaß zu haben, zu arbeiten etc. Anstatt ihnen zu erlauben, an unserem Erwachsenenalltag teilzunehmen, ihr Bedürfnis nach Nähe bei uns stillen zu können oder ihnen auch mal zuzumuten auf unsere volle Aufmerksamkeit warten zu müssen, parken wir sie der Einfachheit halber in ihrer Kommode. Dass Kinder vor allem die Liebe ihrer Eltern brauchen, wissen wir alle. Aber was lassen wir uns unsere Liebesbeweise kosten? Sind wir wirklich bereit, ihnen genau das von uns zu geben, was ihnen guttäte und was sie brauchen oder kriegen sie häufig nur unsere übrige Restenergie?

Meine Beobachtung, wie gut unsere Kinder (die Gesellschaft ansonsten durchaus schätzen) ohne „externe Unterhaltung“ auskommen, lässt in mir die Frage aufkommen, ob ich ihr bisheriges Leben zuerst nach meinen oder ihren Befindlichkeiten gestaltet habe. Mit wie viel innerer Freiheit habe ich spüren und entdecken wollen, was jeder von ihnen für seine individuelle Entwicklung braucht bzw. bräuchte? Mit wie viel künstlicher Bespaßung haben wir uns mittlerweile arrangiert, obwohl unsere Kinder am liebsten bei uns gewesen wären? Sie hätten vielleicht lieber „nur“ neben uns am Laptop gesessen, anstatt dem aufgesetzten Programm in der Kita zu folgen? Wir haben sie möglicherweise mit Unmengen unnötiger Reize von außen bombardiert, damit sie beschäftigt sind während wir zu tun haben. Und vielleicht haben wir uns sogar eingeredet, dass es für sie bestimmt das Beste sei.

Doch ist es nicht auch so, dass das Zusammensein mit ihnen für uns sehr anstrengend ist, je seltener wir es praktizieren? Dass die Kinder uns nerven, obwohl sie lediglich simple Bedürfnisse signalisieren? Dass wir das Spielen mit ihnen verlernt haben oder uns die innere Ruhe und Bereitschaft dazu fehlt? Dass uns scheinbar wichtigere Dinge davon abhalten, die Beziehungen zu unserem Partner und den Kindern zu pflegen? Dass sich unsere persönliche Wertvorstellung von Familie mitunter nicht an den Entscheidungen messen lässt, die wir für unsere Kinder fällen und hier ein Missverhältnis entsteht?

Vermutlich bleibt der tägliche Kampf um die Gewichtung der jeweiligen Bedürfnisse von Eltern und Kindern dauerhaft bestehen. Ob ich mich nach dem „Vorher“ zurücksehne, weiß ich derzeit noch nicht. Aber ich wünsche uns, dass diese Zeit uns Wesentliches über unsere Kinder lehrt. Dass sie uns bereit macht, eingeschlagene Wege zu hinterfragen, sobald sie der Familienatmosphäre schaden und uns viel zu oft in unsere Schubfächer zwängen.

Ich möchte nicht alle Veränderungen und Fortschritte der Familien- und Arbeitswelt pauschal verurteilen, sondern vielmehr dafür sensibilisieren, dem Familienleben (wieder) seinen gebührenden Platz einzuräumen, weil ich erlebe, dass unsere Kinder mit uns Eltern zusammen sein wollen - auch wenn es für sie bedeutet, uns mit unserer Arbeit ertragen zu müssen. Sie wollen von uns lernen, wollen mit uns reden und diskutieren, ihre Fragen loswerden und ihre Gedanken über das Leben mitteilen. Sie haben ein natürliches Interesse und Neugier an unserem Erwachsenenleben. Sie brauchen ein echtes Zuhause - genau wie wir. Warum? Weil sie unsere Kinder sind und uns bedingungslos lieben.

Autorin: Romy Richter

veröffentlicht am

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